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Die geheime Reise der Mariposa - Michaelis Antonia - Страница 39
»Ja«, sagte Casaflora. »Wenn alles anders ware. Aber das ist es nicht. Die Rollen sind verteilt, schon vergessen? Ich bin der bose alte Mann.« Er stand auf und wandte sich zum Gehen.
»Warten Sie«, bat Jose. »Damals, im Wald auf Santiago – waren Sie es, der mich niedergeschlagen hat?«
»Ich? Auf Santiago?« Casaflora schuttelte den Kopf. »Ich war die ganze Zeit auf der Mariposa. Ich habe sie aus den Felsen befreit, als der Wind gedreht hat, wei?t du nicht mehr?«
Jose versuchte uber die Sache auf Santiago nachzudenken, doch jetzt, wo er getrunken hatte, wurde der Schlaf ubermachtig. Er horte noch, wie Casafloras Schritte sich entfernten, dann horte er lange nichts mehr. Als er aufwachte, bebte der Boden. Und er wusste, dass etwas auf der Insel nicht stimmte. Er sah die Leguane aus dem Busch fliehen und uber den Strand zum Meer laufen, obwohl es Nacht war. Er sah die Vogel aufsteigen. Etwas wurde geschehen. Bald. Zu bald.
Waterweg kame erst am Morgen wieder. Und Jose hatte plotzlich das bestimmte Gefuhl, dass es am Morgen zu spat sein wurde. Er riss noch einmal an seinen Fesseln.
Sie hielten.
Die Angst packte ihn mit eisernen Klauen.
»Abuelita«, flusterte er. »Abuelita, wo bist du? Sag etwas! Erzahl etwas! Irgendetwas, um mich abzulenken. Wo bist du, wenn man deine Marchen einmal brauchen konnte?«
Doch die Abuelita schwieg. Es war, als ware auch ihre Stimme von der Insel geflohen. Nie war Jose so allein gewesen.
Marit hatte gedacht, es ware einfach, Jose wiederzufinden. Aber nachts sah alles anders aus und das Beben des Bodens verwirrte sie. Sie irrte eine ganze Weile zwischen den geduckten Gestalten der Busche umher. War es nicht dieser Baum da vorn, an den Waterweg Jose gefesselt hatte? Oder eher der da druben? Wie still es war! Beunruhigend still. Nur der Wind flusterte ihr leise Warnungen zu. Sie wagte nicht, Joses Namen zu rufen, denn der Nachtwind wehte von der Insel fort, und er wurde ihre Stimme hinaus in die Bucht tragen, wo Waterweg schlief. Schlief er noch? Oder war er ihr schon auf den Fersen?
»Nachtwind«, wisperte Marit, »hast du meinen Bruder mit fortgenommen?«
Sie hatte keine Antwort erwartet. Aber jemand antwortete, jemand, der ganz nahe war.
»Nein«, sagte er. »Der Nachtwind hat meine Schwester zu mir gebracht.«
Marit schlupfte durch die dichten Aste, ohne ihre Dornen zu spuren. Und da sa? Jose, genau so, wie sie ihn verlassen hatte: an einen Baumstamm gelehnt, die Hande hinter dem Rucken an den Stamm gefesselt. Er musste zu ihr aufsehen, als sie vor ihm stand. Sie sah, dass ihm das nicht gefiel.
Und sie sah, dass er Angst hatte.
»Du hast gedacht, ich komm nicht wieder, stimmt’s?«, sagte sie. »Du hast gedacht, ich bleibe bei ihm, bei Waterweg. Er hat mich eingesperrt. Carmen hat mir den Weg nach drau?en gezeigt. Eigentlich hat sie einen Weg nach drinnen gesucht. Zu einem Stuck Brot. Und Uwe hat auf mich gewartet.«…Sie holte tief Luft. »Jedenfalls bin ich hier, um dich zu befreien.«
Jose nickte. Jetzt, dachte Marit, wurde er ihr sagen, wie leid es ihm tat, dass er sie angeschrien hatte. Wie froh er war, dass sie hier war. Jose rausperte sich.
»Wer ist Uwe?«, fragte er dann.
Da begriff Marit, dass Waterweg mit einem recht gehabt hatte: Jose lebte in einer anderen Welt. In dieser Welt waren die Manner zu stolz, um sich zu entschuldigen.
»Ein Leguan«, sagte sie und reichte Jose die Wasserflasche. Zu ihrem Erstaunen lehnte er ab.
»Wir mussen hier weg«, sagte er. »Etwas wird geschehen. Die Tiere sind geflohen. Kannst du die Fesseln losen? Waterweg hat mir auch das Messer abgenommen …«
Marit verbiss sich einen Fluch und begann die Knoten einzeln zu offnen. Es dauerte eine Ewigkeit. Jose zuckte zuruck, wenn sie die Schnitte in seinen Handen beruhrte, und sie fluchte zwischen zusammengebissenen Zahnen. »Halt still, verdammt … Jetzt! Jetzt kannst du deine Hande bewegen. Sie gehoren wieder dir.«
Sie zog Jose auf die Beine, und zum ersten Mal fiel Marit auf, dass sie genau gleich gro? waren.
»Du hast gesagt, wir mussen hier weg«, flusterte sie. »Wie denn? Mit der Mariposa? Mit Casaflora? Wird er uns mitnehmen?«
»Nein.« Jose schuttelte den Kopf. »Er hat Angst vor Waterweg. Waterweg wurde nicht wollen, dass er uns mitnimmt.«
Er hob die Mauser auf, die immer noch dort lag, wo Waterweg sie mit dem Fu? hingeschoben hatte. »Und Waterweg hat mein Magazin.« Jose lie? das Gewehr fallen. »Es ist wertlos. Wir konnen Casaflora zu nichts mehr zwingen.«
Ein Grollen lief durch die Insel, und sie hielten sich aneinander fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als das Grollen verebbte, naherten sich Schritte durchs Geast.
»Waterweg«, zischte Marit. Jose nickte.
Sie duckten sich gleichzeitig und schlupften zwischen Asten hindurch, rannten, flohen durch die plotzlich seltsam warme Nacht. Hinter ihnen wurden die Schritte rascher, holten auf … Sie kamen vom Meer, die Schritte, und Marit und Jose flohen ins Innere der Insel, wo der Boden anstieg.
Ein seltsamer Geruch erfullt jetzt die Luft, er erinnerte Marit an das Innere der Kirchen zu Hause. Ihr Verfolger war hinter ihnen zuruckgeblieben, Marit horte ihn nicht mehr.
Sie blieb stehen. »Warte!«, keuchte sie. »Was … was ist das?«
Jose schnupperte. »Balsaholz«, antwortete er. »Es ist Balsaholz. Die Balsabaume brennen.«
Da sah auch Marit den hellen, gro?er werdenden Lichtschein des Feuers, ganz oben auf dem flachen Hugel.
»Die Hitze«, sagte Jose. »Die Hitze muss das Ol in ihnen entzundet haben. Das ist es, was auf der Insel nicht stimmt. Die Tiere haben es geahnt.«
In diesem Moment kamen die Schritte wieder. Der, der hinter ihnen her war, hatte sie reden horen. Es war zu spat, davonzulaufen. Und es gab keine Richtung mehr, in die man laufen konnte. Vor ihnen, oben auf dem Berg, brannte der Wald.
Einen halben Atemzug spater warf sich jemand auf Marit und riss sie zu Boden.
»Seid ihr denn wahnsinnig?«, keuchte Casaflora. »Ihr rennt genau auf das Feuer zu!«
In seiner Hand blitzte ein Messer. »Warum sind Sie an Land gekommen?«, fragte Jose.
»Um dich loszuschneiden«, sagte Casaflora. »Vorhin, als ich dich hierlie?, war mir noch nicht klar, was mit der Insel passieren wurde. Kommt!«
»Wohin?«, fragte Marit, als Casaflora sie auf die Beine zog.
»Zum Strand«, sagte Jose. »Das ist der einzige Ort, an dem wir sicher sind vor dem Feuer.«
Doch Casaflora schuttelte den Kopf, und als er das tat, schoss vor ihnen eine Flammensaule in den Himmel und beleuchtete die Baume auf gespenstische Weise. »Das hier ist kein Buschfeuer«, sagte Casaflora. »Der Vulkan erwacht.«
»Marit?« Waterweg setzte sich benommen auf und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Er hatte von seiner Schwester getraumt. Ihr Gesicht war ganz nah gewesen.
»Pass mir auf das Kind auf«, hatte sie gesagt.
»Ja«, hatte er gesagt. »Ich verspreche es dir. Wo bist du?«
»Weit weg.« Sie hatte gelachelt und ihre Umrisse waren blasser geworden.
»Warte!«, hatte er gerufen. »Ich muss dir etwas erklaren. Seit der Krieg begonnen hat, habe ich etwas getan, wovon du nichts wei?t. Und es ist alles anders, als du denkst … Warte doch!«
Sie hatte nicht gewartet. Sie hatte ihn alleingelassen.
Es roch nach Feuer. Und die Steuerbordscheibe der Kajute war herausgedruckt. Er hatte das lose Fenster vergessen. Er brauchte nicht nachzusehen, um zu wissen, dass Marit nicht mehr da war. Von Marchena flutete eine ungeheure Hitze heran, zusammen mit dem grellen Licht des Feuers. Er stand auf und starrte die brennenden Baume der Insel an. Er wusste, dass er etwas tun musste, doch auf einmal war er unfahig, sich zu ruhren. Er hatte zu viele solcher flammenheller Nachte gesehen.
Er war zu oft durchs Feuer gegangen.
Wenn sich die anderen in ihren Kellern versteckt hatten, war er auf der Stra?e gewesen, um im grellen Feuerschein Dinge zu tun, fur die das Licht des Tages nicht geeignet war. Er war nur einer von vielen gewesen. Einer, der uberlebt hatte. Und jetzt hatte das Feuer ihn eingeholt, tausend und tausend Meilen entfernt von Deutschlands brennenden Stadten.
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